Von der Sinnlichkeit der Erlösung

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Eine Bemerkung zu Anselm von Canterbury

»Noch immer bist du, Herr, meiner Seele verborgen in deinem Licht und deiner Glückseligkeit, und darum bewegt sie sich noch immer in ihrer Finsternis und ihrem Elend. Denn sie schaut umher und sieht deine Schönheit nicht. Sie horcht und hört doch deinen Wohlklang nicht. Sie riecht und nimmt deinen Wohlgeruch nicht wahr. Sie kostet und erkennt nicht deinen Geschmack. Sie streichelt und fühlt nicht deine Zartheit. Du hast dies nämlich in deiner unaussprechlichen Weise verborgen, der du es den Dingen gegeben hast, die du in ihrer Sinnlichkeit geschaffen hast, aber betäubt, erstarrt, verrammelt sind die Sinne meiner Seele durch die langjährige Schlaffheit der Sünde.«
Anselm von Canterbury, Proslogion, cap. XVII

Was aus diesen Zeilen spricht, ist nicht nur ein kindliches Erstaunen darüber, dass die Schönheit Gottes nicht wahrnehmbar ist, sondern auch ein festes Vertrauen darin, dass hinter den vielfältigen Farben und Genüssen der Wirklichkeit ein Genuss verborgen liegt, der alles übersteigt. In die Sinnlichkeit der Welt hat Gott seine unaussprechliche Schönheit gelegt, doch unsere durch die Sünde abgestumpften Sinne nehmen diese nicht mehr wahr. Aber Glauben bedeutet eben: den Schleier zerreißen, der über der Wirklichkeit liegt (vgl. Hebr 11), den Verblendungszusammenhang zerbrechen, mit dem sich das alltägliche Unrecht reproduziert. Falsch verstandene Frömmigkeit aber hat diesen Schleier nur allzu oft verdoppelt und noch mit einem Heiligenschein versehen.

AnselmCover Aber warum ist es Anselm so wichtig, »dass in Gott Wohlklang, Wohlgeruch, Ge­schmack, Zartheit und Schönheit seien« (so die Überschrift zum 17. Kapitel)? Für die heutige Theologie eine geradezu unerhörte Behauptung. Nur als charismatische Schwärmerei oder als idealistische Verklärung der eigenen Kunstvorlieben hätte sie ihren Platz innerhalb (post-)moderner christlicher Literatur. Aber diese theologische Ästhetik mit ihrem Bezug auf die fünf Sinne Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Sehen ist eine notwendige Konsequenz aus Anselms Gottesbeweis sowie aus dem Ausgangspunkt seiner Theologie, der Entfremdung und Unversöhntheit menschlicher Existenz nach dem Fall. Der ontologische Gottesbeweis (Proslogion, cap. II) resultiert ja aus der Annahme, dass das, was wir über Gott wissen können, nicht im Widerspruch zu dem stehen kann, was für uns denknotwendig ist. Vielmehr ist es so, dass der Glaube an den Gott der Erlösung uns schließlich dazu zwingt, die unerlöste Welt im Widerspruch mit sich selbst zu denken (cap. I).

Das dem Gottesbeweis zugrunde liegende Prinzip, Gott als den zu denken, »über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann« (»quo nihil maius cogitari potest«, Proslogion, cap. II), gilt auch dann noch, wenn wir erkannt haben, dass Gott größer ist als alles, was gedacht werden kann (»maius quam cogitari potest«, cap. XV), so dass er schließlich die Grenzen unseres Denkens sprengen muss. Genauso wie die größere Gerechtigkeit Gottes nicht im Widerspruch stehen kann zu unserem Gerechtigkeitsempfinden (cap. XI), sondern es sogar übersteigt, so kann auch die visio beatifica nicht unser ästhetisches Empfinden enttäuschen und geht dennoch über all unsere Vorstellung hinaus.

Genauso wenig aber kann die Erlösung an unserem konkreten, physischen Leid vorbeigehen und es bloß abstrakt negieren. Daran ist bis jetzt noch jeder Versuch gescheitert, die Erlösung durch Christus präsentisch zu denken. Erlösung, sinnlich erfahrbar, steht immer noch aus; an dieser Einsicht kann keine Rechtfertigungslehre vorbei. Diejenige Luthers ist zwar ehrlicher als die tridentinische, aber im Hinblick auf die Sinnlichkeit der Erlösung ist sie ein falscher Trost mit verheerenden politischen Implikationen (etwa in den Bauernkriegen). Gottes Gerechtigkeit will nicht einfach Trost, sondern Recht für die Entrechteten, Befreiung der Unterdrückten, Erlösung vom Leid. Der Glaube an die Erlösung in Jesus Christus dispensiert uns nicht vom Kampf für die Gerechtigkeit (vgl. Mt 5,6), sondern ruft uns zur Nachfolge auf, zur Mimesis mit den Geschlagenen, Angespieenen, von aller Welt Verlassenen, zur Solidarität mit den Mühseligen und Beladenen, den Erniedrigten und Beleidigten dieser Erde. Nie käme Anselm auf die Idee, dass das bestehende Leid von Gott gewollt sei (»… invenit miseriam propter quam factus non est«, Proslogion, cap. I). Es mit dem Segen Gottes zu versehen, wäre für ihn eine unerträgliche Blasphemie. Denn vor der Wahrheit Gottes wird das, was ist, unwahr.

Doch Anselm geht noch einen Schritt weiter. Unvorstellbar ist für ihn nicht nur, dass die Gerechtigkeit Gottes einfach am Leid dieser Welt vorbei »erlösen« könnte. Nicht einmal unsere Wünsche, unser Begehren kann sie einfach ignorieren oder als Verblendung ablehnen. Die himmlische Glückseligkeit ist daher nicht nur höchste Schönheit, größte Stärke, vollkommene Gesundheit, sondern auch höchste »Befriedigung« (»satietas«), höchste »Trunkenheit« (»ebrietas«), höchste »Lust« (»voluptas«, Proslogion, cap. XXV).

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Kategorien Theologie